mercoledì 19 settembre 2007

Andreas Wehr: Un'alleanza globale contro l'oppressione

GLOBALES BUENDNIS GEGEN UNTERDRUCKUNG
Der Rote Oktober in der historischen Bilanz.
Zu Domenico Losurdos Buch »Kampf um die Geschichte«
Von Andreas Wehr
Auf den ersten Blick sieht man es
dem unter einem Allerweltstitel
erschienenen Buch nicht unbedingt
an, daß hier endlich nun
auch auf Deutsch ein Werk vorliegt,
das in anderen Ländern bereits Bestsellerqualität
erreicht hat. So in Italien, der Heimat des
Autors, wo es seit 1996 inzwischen in der fünften
Auflage auf dem Markt ist. In Frankreich wurde
es im renommierten Verlag Albin Michel herausgebracht
und dort von einem breiten Publikum
zur Kenntnis genommen. Domenico Losurdo ist
Professor an der Universität Urbino und Präsident
der Internationalen Gesellschaft Hegel-
Marx für dialektisches Denken. Zusammen mit
Hans Heinz Holz gibt er seit 1991 die Halbjahreszeitschrift
Topos – Internationale Beiträge zur
dialektischen Philosophie heraus. Von Losurdo
erschienen auf Deutsch u. a. »Die Gemeinschaft,
der Tod, das Abendland – Heidegger und die
Kriegsideologie«, »Hegel und die Freiheit der
Modernen«, »Hegel und das deutsche Erbe«,
»Der Marxismus Antonio Gramscis – Von der
Utopie zum ›kritischen Kommunismus‹«.
Gegen Geschichtsrevisionismus
Gegenstand des Buches »Kampf um die Geschichte
« ist, wie es im Untertitel heißt: Der historische
Revisionismus und seine Mythen – Nolte,
Furet und die anderen. Bei jenen anderen handelt
es sich um Carl Schmitt, Andreas Hillgruber, aber
auch um US-amerikanische Historiker. Losurdo
greift damit eine Debatte auf, die im Deutschland
der achtziger Jahre unter der Überschrift »Historikerstreit
« geführt wurde. Zwar endete diese
Kontroverse mit einer Zurückweisung der versuchten
Relativierung der faschistischen Verbrechen,
insbesondere des Genozids an den Juden.
Doch andere von den historischen Revisionisten
hervorgebrachten Argumente konnten sich behaupten.
Dies gilt etwa für die Anklage, daß es die
Bolschewiki waren, die »den internationalen Bürgerkrieg
entfesselten« (26). Der Untergang des
europäischen Sozialismus 1989/1991 hat solchen
Erklärungsmustern den Rang von Allgemeingültigkeiten
verliehen. Im Alltagsbewußtsein, konditioniert
durch verschiedenste »Schwarzbücher
des Kommunismus« und tägliche Indoktrination
jeglicher Art, angekommen ist, daß Rot gleich
Braun sei. Selbst in weiten Teilen der Linken
wird dies, zumindest für die stalinistische Phase,
inzwischen akzeptiert.
Gleichfalls überlebt hat die Anklage der historischen
Revisionisten gegenüber dem »historischen
Zyklus, der von 1789 bis 1917 reicht«
(11). Sowohl der französische Historiker François
Furet als auch sein deutscher Kollege Ernst Nolte
sehen in der französischen und in der russischen
Revolution vergleichbare ideologische Delirien
am Werk. Und auch diese Sichtweise hat weiterhin
Konjunktur.
Beim Vergleich – etwa der englischen und der
amerikanischen mit der französischen bzw. der
russischen Revolution blickt Losurdo jeweils auf
die ganze Epoche und bezieht dabei auch Dinge
mit ein, die zunächst nebensächlich scheinen. So
weist er nach, daß eine Aussage, wonach »der
wahre Ruhm der englischen Revolution (1688–
1689) darin liege, daß sie unblutig war, ohne
Bürgerkrieg und ohne Massaker, ohne Ächtungen
« (59), unhaltbar ist, sieht man sich die verschiedenen
Etappen des englischen revolutionären
Prozesses an. Berücksichtigt werden müssen
auch die blutige Unterdrückung der jakobitischen
Revolten, der nicht enden wollende Bürgerkrieg
in Schottland und die brutale und rücksichtslose
Wiedereroberung Irlands. »Die Ereignisse in Irland
(und Schottland) sind nicht von der Glorious
Revolution zu trennen, weil der Sieg der englischen
Truppen in den rebellischen Regionen wesentlich
›für die Verhinderung einer jakobitischen
Restauration‹ auch in London war« (58).
Und die amerikanische Revolution kann lediglich
in dem von der Sozialphilosophin Hannah
Ahrendt als auch von Furet gepriesenen Glanz der
Gewaltlosigkeit und Friedfertigkeit strahlen, löst
man sie aus ihrem historischen Rahmen heraus.
Nur so kann sie zu jenem positiven Gegenbild
der französischen Revolution werden, die – so
Ahrendt in ihrem Werk »Über die Revolution«,
ein Buch, geschrieben 1963 auf dem Höhepunkt
des Kalten Krieges –, von Beginn an »unter dem
Zeichen Saturns« (66) stand. Doch was soll man
von dieser amerikanischen Revolution halten, die
wohl feierlich die Menschenrechte proklamierte,
diese dann aber – wie Alexis de Tocqueville
auf seinen Amerikareisen treffend bemerkt – für
einen großen Teil der auf dem Territorium lebenden
Bevölkerung, nämlich für die Schwarzen,
keine Bedeutung haben sollte? Von den Indianern
ganz zu schweigen. Eine solche Revolution kann
man nur als unvollendet bezeichnen. So ist es
angebracht, den Versuch ihrer Vollendung in ihre
Bewertung einzubeziehen. Und dieser Versuch
stellte der US-amerikanische Bürgerkrieg von
1861 bis 1865 dar, der von beiden Seiten mit unnachsichtiger
Härte und Brutalität geführt wurde
und dessen Opferzahl »höher als die der amerikanischen
Truppen in beiden Weltkriegen« (65)
war. Sieht man beide Ereignisse in einem einheitlichen
historischen Zyklus, so ist das Bild von der
Friedfertigkeit der amerikanischen Revolution
nicht mehr zu halten.
Formen der »Despezifikation«
Wie steht es nun um den weitreichenden Vorwurf
des historischen Revisionismus, daß ein heilsgeschichtlich
motivierter missionarischer Eifer der
Revolutionäre zu einer nachhaltigen Vergiftung
der politischen Auseinandersetzung, zu einer
Ausgrenzung von Klassen, ja von ganzen Völkern
aus der menschlichen Zivilisation geführt hat, mit
dem Ergebnis eines nicht enden wollenden internationalen
Bürgerkrieges?
Domenico Losurdo antwortet auf diesen Vorwurf
mit der Entwicklung des Begriffs der Despezifikation.
Er versteht darunter – das Wort ist
abgeleitet von »Spezies« – den »Ausschluß oder
die Vertreibung bestimmter ethnischer, sozialer,
politischer Gruppen aus der Wertegemeinschaft,
aus der wahren menschlichen Gesellschaft und
sogar aus dem Menschengeschlecht« (75). Und
derlei Despezifikationen gibt es viele. In Europa
werden sie mit der französischen Revolution
endemisch. Die Revolutionäre, die man nicht verstand
oder verstehen wollte, wurden kurzerhand
zu Verrückten, Kranken, Verwirrten und auch
schon mal einfach zu Kindern erklärt. Oder sie
wurden als Angehörige vermeintlich barbarischer
Völker bzw. fremder Religionen wie der Hunnen,
Türken, Vandalen, Moslems und dergleichen aus
der angestammten Zivilisation ausgegrenzt. Die
Jakobiner zahlen mit gleicher Münze zurück, indem
sie ihre Gegner etwa zu »Horden zivilisierter
Wilder und disziplinierter Banditen« (77) erklären.
Einen neuen Höhepunkt erfahren die gegenseitigen Ausgrenzungen während des totalen
Krieges zwischen 1914 und 1918. Die Deutschen
sind darin für die Engländer schlicht Hunnen.
Die russischen Revolutionäre werden – vor allem
von den Deutschen – zu asiatischen Barbaren,
Mongolen und Wilden erklärt. Bilder, die selbst
noch in Deutschland zu Zeiten der Regierung von
Konrad Adenauer gepflegt wurden.
Losurdo bestreitet keineswegs, daß sich auch
die radikale Linke an diesen Despezifikationen
beteiligte. Generalisierend geißelte sie ihre Gegner
als Ausbeuter, Aussauger, Vampire, Volksfeinde,
Gesindel und belegte sie sogar mit Begriffen
aus der Biologie und Zoologie. So wimmelt es
in stalinistischen und maoistischen Pamphleten
und auch Urteilsbegründungen nur so von Blutsaugern,
Bazillen, Parasiten, Volksschädlingen
und ähnlichem. Angesichts dieser schrecklichen
Vergangenheit könnte man geneigt sein, es auf
sich beruhen zu lassen, die Schuld gleichermaßen
zu verteilen und sich zu freuen, daß es heute
darum besser bestellt ist, obwohl mit Begriffen
wie »Fundamentalist«, »Islamist« und vor allem
»Terrorist« gegenwärtig neue und beunruhigende
Despezifikationen in Mode kommen.
Losurdo beläßt es aber nicht dabei. Er geht
einen Schritt weiter und unterteilt die Despezifikationen
in zwei Formen. »Zumindest von
der französischen Revolution und vom Universalismus
an, der sie auszeichnet, entwickeln die
Revolutionäre die Despezifikation des Feindes
hauptsächlich auf politisch-moralischer Basis«
(76). Ähnlich ist es später bei der radikalen Linken.
Ausgegrenzt werden von ihr Angehörige bekämpfter
Klassen, etwa Kapitalisten oder Großbauern.
Distanzieren sich die Angehörigen dieser
Klassen von ihrer sozialen Stellung, so sind sie in
der Regel auch nicht länger Opfer der Despezifikation.
Anders hingegen die Despezifikationen,
die aufgrund naturalistischer Elemente ausgesprochen
werden. Hier sind es die Rasse, die
Hautfarbe, die völkische oder religiöse Herkunft
oder sonstige dem Menschen von Geburt an anhaftende
Eigenschaften, die die Ausgrenzung begründen.
Und diese Merkmale wird der Mensch
sein Leben lang nicht los. Auf ihrer Grundlage
ausgesprochene Despezifikationen sind dauerhaft
und daher grausamer.
In den Blick nimmt Losurdo hier das ganze
Universum des Kolonialismus und des Imperialismus,
die ganze unheilvolle Welt der »white supremacy
«, der weißen Vorherrschaft, die ideologisch
nur auf Grundlage der Ausgrenzung, der Despezifikation
zu Wilden, Barbaren, Unzivilisierten
usw. errichtet werden kann. Er betrachtet hier
keineswegs nur das Verhalten der Kolonialmächte
gegenüber unterdrückten Völkern entfernter
Kontinente. Er fragt ebenso nach dem Verhalten
der »auserwählten« Völker gegenüber Minderheiten
auf dem eigenen Staatsterritorium, etwa nach
dem Schicksal der Iren auf den Britischen Inseln
und dem der Schwarzen und Indianer in den
USA. Und die Zustände in diesen Ländern, in denen
doch nach Furet und Arendt so friedliche und
zivilisierende Revolutionen stattfanden, waren
und sind zum Teil noch immer nur als abstoßend
zu beschreiben. In Irland versuchten etwa die
Engländer, Mischehen zu verhindern, den Iren
wurde lange »die Schulbildung verweigert«, um
sie dauerhaft als »knechtische Klasse« (83) zu
erhalten. Auch »in den Südstaaten (der USA – A.
W.) stand es unter schwerer Strafe, den Sklaven
Lesen und Schreiben beizubringen« (83). Und
noch bis in die sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts
hatten offizielle Diskriminierungen der
Schwarzen in den USA Bestand. Noch schrecklicher
erging es den Indianern auf dem nordamerikanischen
Kontinent. Hier kann mit Fug und
Recht von einem an ihnen begangenen Holocaust
gesprochen werden. »Schon am Ende des 16.
Jahrhunderts hatte die ›Entdeckung‹ der Neuen
Welt zwischen 60 und 80 Millionen Menschenleben
gefordert; aber das Gemetzel war noch nicht
beendet« (277).
Losurdo übersieht nicht, daß die naturalistische
Despezifikation auch in der französischen
Revolution existierte. Für den Aufstand im französischen
Departément Vendée wurden von den
Revolutionären die »grausamen Vendéer«, eine
»Horde von Banditen« oder sogar eine »Rasse
von Banditen« (85) verantwortlich gemacht.
Doch »die Logik der politisch-moralischen Despezifikation
gewinnt die Oberhand: Am Ende
des revolutionären Zyklus genießen die Vendéer,
im Gegensatz zu den Schwarzen in Amerika
und zu den Iren in Großbritannien, die vollen
politischen und bürgerlichen Rechte« (86). Vergleichbares
ereignete sich in der Sowjetunion. In
Reaktion auf den faschistischen Überfall wurden
dort ganze Völker als »unzuverlässig« bewertet,
in Kollektivschuld genommen und umgesiedelt,
wobei Tausende Menschen ums Leben kamen.
So erging es etwa den Krimtataren, die man
1944 in Gänze nach Zentralasien deportiert hatte.
Doch sie und die anderen betroffenen Völker
wurden schließlich rehabilitiert und ihre Rückkehr
in die alte Heimat gestattet.
In der französischen Revolution wurde mit
der proklamierten Aufhebung der Sklaverei in
den Kolonien sogar die naturalistische und rassische
Despezifikation in Frage gestellt. Untrennbar
ist dies mit dem Namen Toussaint
Louverture verbunden, dem schwarzen Jakobiner,
auf dessen Initiative der Konvent am 4.
Februar 1794 die Abschaffung der Sklaverei
proklamierte. Und auf Saint-Domingue (dem
heutigen Haiti) wurde diese Befreiung unter seiner
Gouverneursherrschaft für kurze Zeit sogar
Realität. Anders dagegen die amerikanische Geschichte:
In 32 der ersten 36 Jahre der Vereinigten
Staaten waren ihre Präsidenten Sklavenhalter.
Sklavenhalter waren auch diejenigen, die die
Unabhängigkeitserklärung und die Verfassung
ausgearbeitet haben.
Noch deutlicher als das Frankreich der Jakobiner
hebt sich dann der Rote Oktober in der
Frage des Kolonialismus von der englischen und
der amerikanischen Revolution ab. 1920 organisierte
die Komintern in Baku den Kongreß
der unterdrückten Völker des Ostens. Sinowjew
und Safarow hoben in ihren Wortbeiträgen die
Notwendigkeit nationaler Revolutionen in den
vom Imperialismus beherrschten Ländern hervor.
Dementsprechend wurde die traditionelle Losung
aus dem »Manifest der Kommunistischen
Partei« »Proletarier aller Länder vereinigt euch!«
mit dem Zusatz »... und unterdrückte Völker der
ganzen Welt ...« versehen. Die russische Revolution,
bei ihren Widersachern so oder so schon
verhaßt, da sie das heilige Privateigentum anrührt,
wurde ihnen dadurch nur umso verhaßter.
Vorgeworfen wurde Lenin, Trotzki und den anderen
nun zudem, »daß sie ein globales Bündnis mit
den Kolonialvölkern gegen den Westen und die
Weißen schließen« (191). Oswald Spengler sieht
in ihnen, hier zitiert nach Losurdo, einen »›Bündnispartner‹
und sogar integralen Bestandteil der
›gesamten farbigen Bevölkerung‹» (191).
Mit dem Angriff des faschistischen Deutschlands
auf die Sowjetunion »nimmt Hitler die
Errichtung von Deutschindien, wie er sich
manchmal ausdrückt, oder die Eroberung eines
dem Far West ähnlichen Lebensraums in Angriff
« (235). Die zu erobernden Gebiete sollten
deutsches Kolonialland werden. Die im Osten
lebenden Völker setzte man einer radikalen rassischen
Despezifikation aus, wie sie bisher nur
Indianern oder Buschmännern und Hottentotten
Afrikas vorbehalten war. Kurzerhand wurden sie
zu »Untermenschen« erklärt. In den Mittelpunkt
des Hasses rückten aber die Juden, da »nach
Goebbels der ›jüdische Terror‹ das Herz des ›östlichen
Bolschewismus‹, dieses Todfeindes der
Zivilisation«, ist (242). »Die Juden seien doppelt
orientalisch und doppelt barbarisch: Es handle
sich um ein Europa und dem Okzident fernstehendes
›asiatisches Volk‹, wie schon Chamberlain
und die im Nazismus aufgehende antisemitische
Tradition unterstreichen. Sie gehörten also vollberechtigt
zu den ›eingeborenen‹ Bevölkerungen.
Außerdem seien sie als Anstifter des ›östlichen
Bolschewismus‹, ja sogar die ethnische Grundlage
des die Zivilisation zersetzenden Virus, den es
ein für allemal zu eliminieren gelte« (242).
Die Vernichtung des europäischen Judentums
beruhte auf einer – zu diesem Zweck rassistisch
extrem zugespitzten – naturalistischen Despezifikation,
die in einem historischen Kontext mit
dem Vorgehen der weißen Herrenrasse gegen
Indianer, Schwarze und gegen die Unterjochten
in den Kolonien stand. Neu und unvergleichlich
ist die von Nazideutschland staatlich angeordnete
massenhafte und fabrikmäßige Ermordung
der Auszurottenden. Der bürgerlichen Historikerzunft
gelingt die Leugnung dieser Kontinuität
nur, indem sie die zahlreichen Aussagen Hitlers
und anderer Nazigrößen, in denen sie ihr Vorgehen
mit dem der weißen Siedler in den USA
gegenüber den Indianern vergleichen und offen
ihre Bewunderung für die Kolonialpolitik Großbritanniens
zum Ausdruck bringen, einfach unter
den Tisch fallen lassen.
Andere Sicht auf den Oktober
Losurdos Schlußfolgerungen sind denen der
deutschen historischen Revisionisten Carl
Schmitt und Ernst Nolte diametral entgegengesetzt.
Während diese die Verbrechen des faschistischen
Deutschlands mit dem Hinweis auf ein
»vergleichbares Vorgehen« der übrigen weißen
Nationen gegenüber den jeweils Unterdrückten
relativieren wollen, untersucht Losurdo dieses
»vergleichbare Vorgehen« der anderen daraufhin,
ob es sich hier nicht gleichfalls um Verbrechen
handelt.
Losurdo gibt darüber hinaus einen Blick auf
die historische Bilanz des russischen Oktobers
frei, der sich von den herrschenden Wertungen
grundlegend unterscheidet. Die begangenen stalinistischen
Verbrechen werden von ihm keineswegs
in Frage gestellt. Er weist jedoch darauf hin,
daß diesen Vergehen in der Regel eine Despezifikation
auf politisch-moralischer Basis zugrunde
lag, vergleichbar dem Terror der Jakobiner. Für
das einzelne Opfer mag dies gleichgültig sein.
Und doch ist dieser Unterschied wichtig, da eine
solche Form der Despezifikation dem Opfer
nicht das Menschsein abspricht und damit auch
nicht die Menschenrechte als historische Errungenschaft
der Geschichte negiert werden. Die
»Einheit des Menschengeschlechts« als Grundlage
für das »allgemeine Mitleid« (75) bleibt
erhalten. Der Nazismus hingegen steht in einem
scharfen Gegensatz sowohl zur authentischen
Kantschen Ethik als auch zu Hegels Philosophie
der Geschichte: Denn beide Philosophen setzen
die Kategorie der Allgemeinheit und die Einheit
der Gattung Mensch voraus. Eine Überwindung
der politisch-moralischen Despezifikation ist
denn auch einfacher und gelingt vergleichsweise
schneller als die der tiefsitzenden Kategorien der
anthropologischen, ethnischen und rassischen
Diskriminierung.
Nach 1917 ist es die von der russischen Revolution
ausgehende Emanzipationsbewegung der
unterdrückten Völker, die die naturalistischen Despezifikationen
kritisch in den Blick nimmt. Und
allein die Existenz der Sowjetunion erleichtert an
vielen Orten der Erde deren Überwindung. Auch
aus diesem Grund wurde die Sowjetunion zum
Haßobjekt all jener im Westen, die genau daran
kein Interesse hatten. In dem ab 1941 von Nazideutschland
geführten Feldzug zu ihrer Vernichtung
werden ihre Führer unter der Brandmarkung
einer »jüdisch-bolschewistischen Intelligenz«
selbst zum Opfer einer solchen Ausgliederung
aus der menschlichen Gesellschaft und für die
Vernichtung ausersehen.
Losurdos »Kampf um die Geschichte« ist ein
wichtiges Buch für die Linke, da es sich nicht
mit vorschnellen Urteilen über die Bilanz des
Sozialismus, gefällt unter Verwendung eines
generalisierenden Verdikts des Stalinismus, zufriedengibt.
Angesichts des 90. Jahrestags der
russischen Revolution liefert es vielmehr einen
unverzichtbaren Beitrag zur Diskussion über das
geschichtliche Wirken des Roten Oktobers, ist es
doch an der Zeit, daß sich die Linke klar darüber
wird, was da wirklich vor neun Jahrzehnten begann.
Losurdos Buch bietet für diese Diskussion
eine gute Grundlage.
Domenico Losurdo, Kampf um die Geschichte. Der historische Revisionismus und seine
Mythen, PapyRossa Verlag, 304 S., brosch., Köln 2007, 17,90 Euro
Bei diesem Text handelt es sich um die gekürzte Version eines Beitrages, der in Heft 72
der Zeitschrift Marxistische Erneuerung Z. veröffentlicht wird (erscheint Anfang Dezember,
Bestellungen an: redaktion@zme-net.de, Einzelpreis 9,50 Euro)
Vortrag und Diskussion zu »Kampf um die Geschichte« mit Domenico Losurdo, Moderation:
Arnold Schölzel, in den Räumen der jungen Welt, Torstr. 6, Berlin-Mitte, Freitag, 28. September, 19 Uhr (Eintritt 3 Euro)